Pfarrbrief

2 Die Weihnachtsträne Eine etwas andere Weihnachtsgeschichte „Schreibst Du wieder eine schöne Geschichte zu Weihnachten?“, fragt Mira, als sie ihre Freundin am Computer sieht. Es sind noch ein paar Wo- chen bis Weihnachten. Aber die vergehen ja im- mer bekanntlich besonders schnell. Claire schaut kurz zu Mira und sagt: „Nein.“ - „Einfach Nein?!“ Mira geht zu Claire und stellt sich hinter sie. „Ah, Du schreibst Mails.“ - „Mail-Geheimnis, schon mal gehört?“, fragt Claire und klickt ihre Mail weg. Aber Mira hat erreicht, dass Claire sich ihr zuwen- det. „Wieso willst Du wissen, ob ich eine schöne Weihnachtsgeschichte schreibe?“, fragt sie. „Machst Du doch sonst jedes Jahr“, meint Mira. „So mit Kitsch und Botschaft und tralala.“ „Ach ja: tralala?“ Claire blickt ihre Freundin an. Freundlich ist ihr Blick nicht. „Ich meine ja nur“, sagt Mira. „Es waren doch immer schöne Geschichten. Für Weihnachten halt. Friede und Freude und das Kind in der Krippe. Warum also nicht dieses Jahr?“ - „Mir sind die schönen Gedanken abhand- engekommen“, sagt Mira. „Und außerdem: Da klang irgendwie Spott durch, als Du von den schönen Geschichten gesprochen hast. Was soll also die Frage?“ - „Ich dachte halt, gerade in diesem Jahr wäre doch so eine aufbauende Geschichte, eine schöne Geschichte zu Weihnachten ganz passend …“ Mira ist recht kleinlaut. „Weißt Du, was mir dieses Jahr eingefallen ist?“ Claire kramt einige Minuten auf ihrem cha- otischen Schreibtisch. Dann zieht sie einen Zettel aus einer Mappe. „Hier, die schöne Geschichte!“ Mira nimmt den Zettel und liest die Überschrift laut vor: „Die Weihnachtsträne“. Sie schaut ihre Freundin an und meint: „Oh!“ Leise liest sie den kurzen Text: „Eine kleine Träne löst sich aus den Augen. Sie nimmt ihren Weg über die Wange. Im Fernseher toben die Bilder. Laute Stimmen. Hier Explosionen mit Toten und Verletzten, dort bebt die Erde, Wassermassen an vielen Orten, Dürre an anderen, hier Menschen, die helfen, dort Menschen, die töten. Die kleine Träne be- kommt Gesellschaft und wird größer. Besserwisser in diesem Land, ohnmächtige Menschen in einem anderen Land, Dekadenz der Reichen und Mächtigen dort, Wut und Verzweiflung an einem anderen Ort. Menschenrechte mit Füßen getreten, Frau- enrechte sowieso. Glaubende Menschen verfolgt und gefoltert, Schweigen und Re- lativieren als kleinster gemeinsamer Nenner. Wegschauen, wegducken voller Angst. Schwäche und Gleichgültigkeit ist an der Tagesordnung. Eigene Taschen vollge- stopft hier und anderen Moral gepredigt. Willkommen Weihnachten. Und die Weih- nachtsträne ist inzwischen so groß, dass sie fast zu einem Strom geworden ist. Die Augen sind blind von der Träne und Weihnachten ist nur noch verschwommen zu sehen. Und ist es so nicht eigentlich jedes Jahr?!“ - „Wow“, sagt Mira. Und noch einmal „Wow. Okay, das ist wirklich keine schöne Geschichte zu Weihnachten.“ Claire blickt auf den Zettel in Miras Hand und lacht. „Echt deprimierend – oder?“ - „Mmh“, meint Mira. „Sehr deprimierend.“ Sie schaut wieder auf den Zettel. Dann sagt sie: „Aber Du könntest ja noch ein irgendwie versöhnliches Ende formulieren. Dann hättest Du eine kurze, deprimierende Weihnachtsgeschichte mit einem schönen

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